RPE vs Prozente
In einem unserer letzten Artikel von Tim ging es darum, RPEs im Training richtig einzuschätzen (https://www.dedicatedsports.de/blog/die-richtige-rpe-im-krafttraining-treffen). In diesem Artikel soll es nun um die Vor- und Nachteile von RPE basiertem Training im Vergleich zu prozentbasiertem Training gehen. Außerdem soll diskutiert werden, für welche Personen der Einsatz von RPEs sinnvoll ist und welche Personen eher von Prozenten Gebrauch machen sollten.
Prozente
Seit Beginn der Trainingsplanung im Krafttraining sind Prozente ein wertvolles Tool, um die Trainingsintensität zu steuern. Mithilfe von Prozenten lassen sich präzise Gewichtsangaben geben. Ein großer Vorteil von Prozenten besteht in ihrer Objektivität sowie darin, dass Lasten kalkuliert werden können, die fern von Muskelversagen sind. Trotz dieser Vorteile stößt das Training mit Prozenten an einigen Punkten an seine Grenzen.
Der größte Nachteil von prozentbasiertem Training besteht darin, dass auf die Tagesverfassung keine Rücksicht genommen wird. Jede trainierende Person weiß, dass es sowohl gute als auch schlechte Tage gibt. Wird die Tagesverfassung nicht berücksichtigt, kann dies für den Trainingsfortschritt in zweierlei Hinsicht hinderlich sein.
Einerseits kann es an einem schlechten Tag Sinn machen, die Hantel etwas leichter zu beladen, um technisch sauber arbeiten zu können, während an einem guten Tag die Option bestehen würde, die Last auf der Hantel zu erhöhen und den „guten Tag“ auszunutzen.
Ein weiterer Nachteil von Prozenten besteht darin, dass unterschiedliche Personen mit gleichem Prozentsatz ihres One-Repetition-Maximums unterschiedlich viele Wiederholungen schaffen. Beispielsweise können drei Wiederholungen mit 90% des 1RMs von der einen Person ohne Probleme absolviert werden, während eine andere Person mit identischer Vorgabe Probleme bekommen kann. Ein Grund dafür kann der Trainingsstatus einer Person sein. Das errechnete 1RM bei Anfängern ist oft deutlich höher als ihr tatsächliches 1RM, da maximale Lasten technische Fehler nur bedingt verzeihen und die Technik bei Anfängern noch nicht ausgereift ist. Da die Intensität eine Variable der Spezifität ist, ist außerdem die Trainingsgeschichte entscheidend. Eine Person, die vor allem im Kraftausdauerbereich trainiert hat, wird mit 70% verhältnismäßig besser performen als mit 90%. Zudem können individuelle und geschlechtliche Unterschiede hinsichtlich der Auslastung in verschiedenen Intensitätsbereichen bestehen.
Wie viele Wiederholungen mit einem gewissen Prozentsatz erreicht werden ist außerdem stark übungsabhängig. Tendenziell sind durch eine Reduktion der Range of Motion mehr Wiederholungen möglich. Ein gutes Beispiel ist das Bankdrücken mit starker Brücke und breitem Griff. Sehr kleine Personen, die diese Technik anwenden, schaffen erfahrungsgemäß mehr Wiederholungen mit gleichem Prozentsatz ihres 1RMs als größere Personen, die aufgrund ihrer Anthropometrie nicht mit gleicher Technik drücken können. Auch die Übungsausführung kann die relative Intensität beeinflussen. Beispielsweise kann man sich in der Kniebeuge in der obersten Position ausruhen und folglich mehr Wiederholungen absolvieren. Rückschlüsse auf das tatsächliche 1RM werden dadurch schwierig.
Um in einem prozentbasierten Programm auf die oben beschriebenen Punkte Rücksicht nehmen zu können, benötigt es seitens des Coaches oder des Athleten/der Athletin ein hohes Maß an Erfahrung in der Trainingsplanung.
RPEs
RPEs sind (in Verbindung mit einer Angabe der Wiederholungszahl) neben Prozenten eine weitere Möglichkeit, um die Intensität zu steuern. Der große Vorteil von RPEs besteht in ihrer autoregulativen Komponente. Neben Trainingsstatus, Trainingsgeschichte und Übungsauswahl wird im RPE basierten Training auch die Tagesverfassung der Person berücksichtigt. Eine Steuerung der Intensität über RPEs macht allerdings nur dann Sinn, wenn die folgenden zwei Punkte erfüllt sind. Um RPEs richtig einschätzen zu können, muss nah genug zum Muskelversagen trainiert werden. Alles unter einer RPE 6 lässt sich nur sehr schwer einschätzen. Umso näher am Muskelversagen trainiert wird, desto akkurater lässt sich die RPE bewerten. Daher eignet sich die Steuerung der Intensität über RPEs nur bei Sätzen in höheren Intensitätsbereichen (>80%) oder für Hypertrophietraining.
Zum anderen benötigt man für RPE-basiertes Training das richtige Einschätzungsvermögen. Es benötigt Übung und Erfahrung, um RPEs richtig einschätzen zu können. Daher eignet sich die Steuerung der Intensität über RPEs vor allem für fortgeschrittene Athleten. Ebenso wichtig ist die Objektivität. Wird im Training nicht rational, sondern emotional gehandelt, dann ist ein Training mit RPEs zum Scheitern verurteilt. Wird die Objektivität im Training nicht gewahrt, dann ist dies meist mit Technikeinbußen aufgrund schlechter Gewichtswahl verbunden.
RPE vs. Prozent
Beide Konzepte haben Vor- und Nachteile. Letztendlich ist es sehr stark typabhängig, welches der beiden Konzepte besser funktioniert. Der größte Vorteil von RPE liegt in ihrer autoregulativen Komponente. Die damit verbundene „freie Gewichtswahl“ ist erfahrungsgemäß jedoch auch gleichzeitig die größte Schwäche dieses Systems. Athleten/Innen, die Mühe haben, sich selbst einzuschätzen und objektiv zu bleiben, sollten prozentbasiert arbeiten. Für Personen, die im Training rationale Entscheidungen treffen, stellen RPEs jedoch ein wertvolles Tool dar. Es besteht darüber hinaus auch die Möglichkeit, RPEs und Prozente in einem Plan miteinander zu kombinieren, um die Vorteile beider Systeme bestmöglich zu nutzen. Beispielsweise können anstatt eines fixen Gewichtes, Gewichtsspannen angegeben werden, um auf die Tagesverfassung Rücksicht zu nehmen. Ebenso können in einem Trainingsplan, der vorwiegend mit RPEs programmiert ist, Gewichte für Techniktraining mithilfe von Prozenten kalkuliert werden. Gleichermaßen ist es möglich, einzelne schwere Sätze mit RPEs zu programmieren, während das restliche Volumen mit Prozenten kalkuliert wird. Zusammenfassend gilt hinsichtlich der Frage, welches der beiden Konzepte zur Steuerung der Intensität besser geeignet ist, der Spruch: „Viele Wege führen ans Ziel“. Jede Athletin und jeder Athlet muss selbst herausfinden, welches der beiden Konzepte für sie/ihn besser funktioniert. Dasselbe gilt für Coaches und ihre Trainees.